5. März 2014

Zum aktuellen Stand der Dinge in Mérida / Venezuela


Liebe Leute,

wir dachten es ist an der Zeit, uns mal mit einem kurzen Lagebericht aus Mérida und einigen Bemerkungen zum Stand der Dinge hier in Venezuela zu melden. Die Situation ist besorgniserregend und erinnert natuerlich schon an den Putschversuch der Opposition gegen Praesident Chávez im Jahr 2002, auch wenn heute die Kraefteverhaeltnisse andere sind. Seit den venezolanischen Praesidentschaftswahlen vom April 2013, die von dem von Chàvez kurz vor seinem Tod designierten Nachfolger Nicolás Maduro nur knapp gewonnen worden waren und den Kommunalwahlen im vergangenen Dezember, aus der die Regierung Maduro allerdings erheblich gestaerkt hervorgegangen ist, hat in den Reihen der Opposition wieder einmal derjenige Fluegel die Oberhand gewonnen, der einen gewaltsamen Umsturz der Regierung befuerwortet.  Dieses Jahr ist das erste, in welchem zur Abwechslung mal keine Wahlen in Venezuela stattfinden und die naechste Chance fuer die Opposition, sich per Wahlen mit den Chavisten zu messen, waeren die Parlamentswahlen Ende 2015 oder ein Abwahlreferendum nach der Haelfte von Praesident Maduro's Amtszeit, 2016. So lange will man aber dann doch nicht warten und so toben sich seit Ende Januar unter der Fuehrung von Leopoldo López - dem Vorsitzenden der rechtsradikalen oppositionellen Partei "Voluntad Popular"- Anhaenger der Opposition in "friedlichen" Demonstrationen auf den Strassen Venezuela's mit der Forderung aus, Praesident Maduro solle sofort zuruecktreten.

Als Gruende fuer die bis jetzt anhaltenden Proteste, die trotz ihrer von den Teilnehmern und von den privaten Medien beschworenen "Friedfertigkeit" von hoechst gewalttaetigem Charakter sind, werden die wirtschaftlichen Probleme Venezuelas wie Preisspekulation, Inflation, Lebensmittelknappheit sowie stockende oder fehlende Produktion angegeben; Probleme, die zum einen Teil in einer fehlerhaften Wirtschafts- und Finanzpolitik der Regierung wurzeln, und zum anderen in einer gezielten Eskalation dieser Schwaechen durch die der Opposition nahestehenden, grossen Wirtschaftssektoren mit dem Ziel, die Regierung zu destabilisieren und am Ende zu stuerzen. Auch haben die meisten im Kleinhandel taetigen Venezolaner wie auch unzaehlige Individuen zur dieser Eskalation beigetragen, indem sie schlicht und ergreifend aus wirtschaftspolitischen Massnahmen wie der Subventionierung von Nahrungsmitteln durch den Staat ihren persoenlichen Vorteil ziehen, namentlich solche Billigprodukte auf- und zu einem erhoehten Preis weiterverkaufen, oder US-Dollars zum staatlich festgesetzten Kurs erstehen und auf dem Schwarzmarkt mit riesigen Gewinnspannen verkaufen.     

Im Verlaufe der Demonstrationen und Proteste vom Januar und Februar kam es zu Verletzen und Toten und Leopoldo López wurde festgenommen, weil er seine Anhaenger offen zur Gewalt und zum Sturz der Regierung aufgerufen hatte. Die Opposition beteuert, die Regierung sei alleine fuer die Gewalt verantwortlich und gehe mit aeusserster Brutalitaet gegen die Demonstranten vor; entsprechende "Beweisfotos", die vor allen Dingen in Twitter, aber auch in anderen elektronischen Medien, sowie in nationalen und internationalen Druckmedien kursierten, stellten sich als Trug heraus, naemlich aus Konfrontationen mit Demonstranten und Sicherheitskraeften anderer Laender stammend. Letztendliches Ziel der Medienmanipulation ist ein wie auch immer geartetes Eingreifen des Auslands in Venezuela zu erreichen (Obama und John Kerry haben ja bereits die venezolanische Regierung dazu aufgefordert, sowohl Leopoldo López wie auch die "politischen Gefangenen" freizulassen - Leute, die wegen unerlaubten Waffentragens oder wegen Gewalttaten in fragranti festgenommen wurden).

Inzwischen hat die Regierung Maduro eine "nationale Konferenz fuer den Frieden" einberufen und saemtliche Kraefte des politischen und wirtschaftlichen Spektrums des Landes am runden Tisch versammelt, wo in Arbeitsgruppen die aktuellen Probleme und deren moegliche Loesung diskutiert und ausgearbeitet werden sollen. Die Regierung versucht auf diese Weise, eine moegliche Gewaltspirale mit unabsehbaren Konsequenzen fuer das Land im Keim zu ersticken. Die Proteste gehen indes weiter, allerdings muss dazugesagt werden, dass diese sich nicht ueber das ganze Land erstrecken sondern sich auf 18 der insgesamt 335 Municipios (Gemeinden) in Venezuela beschraenken, wobei die Bundesstaaten Mérida, Táchira, DF und Carabobo, insbesondere ihre Landeshauptstaedte Mérida, San Cristóbal, Caracas (Chacao) und Valencia, am schwersten betroffen sind.

Nun zur Situation in Mérida. Was sich hier seit nunmehr drei Wochen abspielt, grenzt ans Groteske. Gemaess der Strategie der Regierung, eine Konfrontation mit den oppositionellen Demonstranten um jeden Preis zu vermeiden, sind an die lokalen Sicherheitskraefte strikte Anweisungen ergangen, wenn irgend moeglich nicht in die Proteste einzugreifen und diese sich selbst erschoepfen zu lassen. Diese Strategie hatte zur Folge, dass zentrale Hauptstrassen der Stadt wie etwa die Avenida Los Próceres und Las Américas in ihrer gesamten Laenge von Gruppen oppositioneller Randalierer ungestoert abgesperrt und mit zahlreichen, aus brennenden Autoreifen und Muellsaecken, herausgerissenen Regenwasserabflussgittern, umgestossenen Strassenlampen, heruntergerissenen Ampeln, gefaellten Baeumen, Sperrmuell, mit Naegeln gespickten Gartenschlauchstuecken und Stacheldraht bestehenden Barrikaden durchzogen wurden, sodass an ein Durchkommen mit Fahrzeugen - seien es Autos oder Motorraeder, nicht zu denken ist. Landesweit sind bis jetzt fuenf Motorradfahrer durch ueber die Strasse gespannte Stacheldraehte von ihren Fahrzeugen gerissen worden und ums Leben gekommen. Auf die Strasse gegossenes Altoel ist ein weiterer Gefahrenfaktor fuer Motorradfahrer, deren grosse Mehrheit uebrigens Regierungsbefuerworter sind und gegen welche eine regelrechte Hetzkampagne eroeffnet worden ist. Ganze Wohnblocks und Stadteile sind damit fuer den Zulieferverkehr an Lebensmittellaeden, Anlieferfahzeuge von Kochgas, Ambulanz- und Polizeifahzeuge sowie Feuerwehr, unzugaenglich. Die Anwohner muessen zu Fuss gehen, manchmal kilometerweit, um ins Stadtzentrum zu gelangen. Wer heil aus seinem Wohnviertel heraus und auch anschliessend wieder hineinkommen moechte, muss den "Barrikadenhuetern" Passiergeld zahlen. Wer dies nicht tut, laeuft Gefahr, im geringsten Falle bespuckt, geschlagen und bedroht zu werden, mit Steinen beworfen oder im schlimmsten Falle sogar angeschossen zu werden (ersteres ist einer Freundin im Wohnblock La Trinidad; letzteres dem Freund eines Bekannten im Wohnviertel Cardenal Quintero passiert). Freunde im Stadtteil La Pedregosa berichten von bis zu 100.Bs Passiergeld, was den Anwohnern abgenommen wird; ein Bekannter wurde gestern kurz vor der Einfahrt ins Hospital Sor Juana Inés gestoppt und musste 50 Bs bezahlen um weiterfahren und eine kranke Verwandte in diesem Hospital besuchen zu koennen.

Das Bild, das sich inzwischen abzeichnet, ist folgendes. Die aktiven Frontleute (man schaetzt insgesamt etwa zweihundert), die im Auftrag der Opposition die Barrikaden in der ganzen Stadt errichtet haben und "instand halten", sind junge Maenner, die eigens dafuer bezahlt werden. Einer, der vor kurzem festgenommen und verhoert werden konnte, hat gestanden, bezahlt zu werden, sich aber aus Angst vor Repressalien seiner Bezahler geweigert, Aussagen zu machen, wer genau ihn finanziert. Des weiteren scheinen die urspruenglichen Frontleute - zumindest teilweise - durch weniger gut bezahlte, gewoehnliche Kleinkriminelle ersetzt worden zu sein, fuer welche sich der Bau und die Erhaltung der Barrikaden, sowie das Kassieren von Passiergeld als ein lukratives Geschaeft erwiesen hat. Des Nachts gehen Passiergeldabnahmen und Ueberfaelle Hand in Hand. Dies sei zumindest einer der Gruende dafuer, weshalb die Sache der Opposition aus der Hand gleite, wie einige Freunde, die in solchen abgesperrten Stadtteilen wohnen, meinen. Tatsache ist, dass die ganze Situation sowohl die Chavistas bzw. Regierungsanhaenger, als auch inzwischen dieselbe Opposition an den Rand des Aushaltevermoegens gebracht hat. Was die Regierungsbefuerworter in einer Mischung von Wut und Ohnmacht zur Verzweiflung bringt, ist die wahrhaft "stoische" Untaetigkeit der Sicherheitskraefte, die nur in extremen Faellen eingreifen und sich ansonsten von Randalierern und Demonstranten beschimpfen, mit Molotovcocktails bewerfen und auch mit scharfer Munition beschiessen lassen und zusehen (muessen), wie ein grosser Teil Mérida's in Schutt und Asche verwandelt wird. Bewaffnete oppositionelle Randalierer haben hier Krankenhaeuser, staatliche Institutionen, unter anderem das Umweltministerium, das Transportsystem, Kommunikationseinrichtungen, Supermaerkte und sogar Hotels angegriffen und teilweise zerstoert; der zentrale Busbahnhof in Mérida musste seine Operationen vor knappen zwei Wochen einstellen, ebenso das elektrische Trolebussystem. Der oeffentliche Transport kam an einigen Tagen komplett zum Erliegen und ist ansonsten prekaer. Viele Geschaefte in Mérida sind geschlossen, teils weil den Ladenbesitzern gedroht wurde, ihre Laeden zu zerstoeren falls sie oeffnen sollten, teils weil Angestellte und Arbeiter nicht zu ihrem Arbeitsplatz gelangen koennen.

Jeden Tag wird der regierungsfreundliche Nachrichtensender YVKE Mundial in Mérida mit einer Flut von Anrufen ueberschwemmt, darunter zunehmend auch Anhaenger der Opposition, die unsere Landesregierung und die Sicherheitskraefte regelrecht um Hilfe anflehen weil sie nicht mehr aus ihren Haeusern kommen, Tag und Nacht den Rauch von brennendem Plastikmuell und Autoreifen einatmen muessen, sich nicht mehr versorgen koennen - die meisten Lebensmittellaeden sind leergefegt, da die Zulieferer nicht durch die Barrikaden kommen - und auch in Krankheitsfaellen keine Hilfe erhalten koennen. Allerdings wird aus einigen, vorwiegend von Oppositionsanhaengern bewohnten Vierteln vermeldet, dass selektiv Lebensmittel- und Kochgastransporte zur Belieferung von Supermaerkten und Wohnblocks durchgelassen werden. Eine zeitlang haben die Randalierer konkrete Unterstuetzung von der Opposition in Form von Material fuer die Barrikaden und der Versorgung mit Essen und Getraenken erhalten, sowie "moralische" Unterstuetzung durch naechtliche Cacerolazos (Topfschlagen) der umliegenden Nachbarschaft; diese Unterstuetzung hat jedoch inzwischen deutlich nachgelassen bzw. wird, was die Versorgung der Barrikadenhueter anbelangt, inzwischen erzwungen oder erpresst, was die Oppositionsanhaenger aergert und deaktiviert. Auf der Seite der Regierungsanhaenger macht sich zunehmend Unmut breit, da die Strategie des "Laissez-Faire", um's mal ironisch zu formulieren, als Verrat empfunden wird:  Im Namen der Menschenrechte der oppositionellen Randalierer (und aus Angst vor allem vor der internationalen Medienberichterstattung) darf nicht gegen diese vorgegangen werden, aber ueber die Menschenrechte der Belagerten verliert niemand ein Wort. Regierungsanhaenger haben angefangen zu drohen, dass sie die Sache selber in die Hand nehmen wuerden, wenn die Regierung nicht schleunigst die oeffentliche Ordnung wieder herstellt.

Es gaebe sicherlich noch etliches mehr zu berichten, aber diese Zeilen sollen lediglich einen komprimierten Lagebericht darstellen. Wichtig ist vielleicht noch zu bemerken, dass die Landesregierung in Mérida nicht gaenzlich mit verschraenkten Armen dem Geschehen hier zusieht, sondern zumindest mehrere Versuche unternommen hat, in einer gemeinsamen Aktion mit Sicherheitskraeften und freiwilligen Helfern aus den verschiedenen Stadtvierteln die Barrikaden zu raeumen und die Strassen zurueckzuerobern, was aber nur zu einem Teil gelungen ist, da die Raeumtrupps oftmals nicht nur mit Steinen beworfen sondern auch mit scharfer Munition beschossen worden sind. Vielle geraeumte Barrikaden werden kurze Zeit spaeter wieder errichtet, da nicht ueberall Sicherheitskraefte zur Ueberwachung abgestellt werden koennen.

Ebenfalls wichtig ist es, darauf hinzuweisen, dass es sich bei diesen Protesten nicht um einen allgemeinen Volksaufstand gegen die Regierung handelt, sondern um einen von radikalen, oppositionellen Frontgruppen durchgefuehrten Destabilisierungsversuch, der bei weitem nicht auf die Unterstuetzung der gesamten, venezolanischen Opposition, aber in jedem Falle auf die Unterstuetzung nationaler und internationaler Massenmedien zaehlen kann und letzten Endes darauf abzielt, eine in einen Buergerkrieg muendende Gewaltspirale zu erzeugen, die ein Eingreifen des Auslands in Venezuela rechtfertigen soll.    
J.S.